Es fühlt sich gut an, das neue Buch von Christa Wolf. Dickes, weiches Papier, ein klares Druckbild, welche anderen Medien kann man erfühlen? Fernsehen, Computer oder CD´s lassen sich hören und sehen, fühlen kann man nur noch Bücher, und auch nur die gut verarbeiteten. In Christa Wolfs "Mit anderem Blick" sind Erzählungen aus den Jahren 1992 bis 2002 vereint. Eine davon, die über einen Fototermin in Los Angeles, eine Burleske in der das gestandene Europa die schöne neue Welt trifft, hat sie einmal dem »Gesprächskreis« vorgelesen, einer Einrichtung, die sie selbst ins Leben gerufen hatte und der sie vorstand.

Es war 1990, ich war nach Berlin gesiedelt, auch um das wirklich neue, das vereinigte Deutschland kennen zu lernen, da tagte der »Gesprächskreis« noch in der Akademie der Künste Ost. Die Stadt hatte ja alles doppelt, Rathäuser, Akademien, Realitäten. Im Kreis um Christa Wolf hatten sich Intellektuelle aus den beiden Städten, die nicht eins waren und wurden, zusammengefunden. Ein seltener Ort, denn die Berliner, gleich aus welcher Schicht, hockten in ihren Kiezen, zirkulierten in ihren alten Kreisen und repetierten gerne ihre bekannten Vorurteile. In Christa Wolfs Kreis war Offenheit erstes Gebot und Toleranz Voraussetzung für den Verbleib.

Leben bedeutet Schmerzen, sagt Christa Wolf in der Erzählung "im Stein". Sie berichtet von einer Operation, bildmächtig von dem, was sie während dessen halb bewusst erlebt, spielt mit ihrer Angst, ihren Schmerzen, gewinnt ihnen durchaus komische Seiten ab, wartet drauf, dass sie ihr "die Instrumente" zeigen. Einen Gerechtigkeitsfimmel habe sie, hatte schon ihre Mutter gesagt, und dass sie so zum Stein des Anstoßes würde, das erinnert sie in der Dämmerung der Narkose.

Weit weg, in Westdeutschland, wo man den Grass und den Böll kannte, musste ich die Wolf damals nicht kennen. Denn die lebte in der so genannten DDR, dem Nenn-Staat, den es nicht geben durfte. Mein erstes und, Gott sei dank, letztes politisches Gedicht wandte sich gegen den Mauerbau, da hatte sie bereits den "Geteilten Himmel geschrieben", war klug, kraftvoll und hatte immer noch diesen Gerechtigkeitsfimmel. Ich war auf dem Weg von einem verwirrten Jungen zu einem verwirrten jungen Mann, aber den Fimmel, den hatte ich auch.

Ganz besonders die Geschichte "Begegnungen Third Street" hinterlässt den Wunsch: das würde man auch gerne können, wie sie davon erzählt, in den USA vor dem Fernseher zu sitzen und das Unglück anderer Leute, zum Programm gemacht, sich auf ihr Gemüt legt und, scheinbar nebenbei, die Figur der Medea, der neue Roman, in ihr geboren wird. Nicht weit vom Wilshire Boulevard erinnert sie sich an Moskau im Oktober 1989, an die Abwertung der Intellektuellen und "Unser ganzes Leben kann doch nicht falsch gewesen sein es gibt kein richtiges Leben im falschen aber wo gibt es ein richtiges in dem man richtig leben könnte".

Im "Gesprächskreis" war die Liste prominenter Namen lang. Richard von Weizsäcker referierte dort, die Herren Thierse und Bisky trugen vor, Hans Magnus Enzensberger stellte unter Beweis, dass auch Gebildete Unsinn reden können. Rund 15 Jahre lang ordnete die Dichterin, von den Frauen um sie herum hinter vorgehaltener Hand zuweilen "Mutter Wolffen" genannt, die Diskussionsrunden nach den Referaten mit fester Hand. Sie musste sich nie Respekt verschaffen, sie hatte ihn.

Als mir Ende der 60-er die DDR vom Sogenannten zum Ganzbestimmten wurde, holte ich den "Geteilten Himmel" nach und das "Nachdenken über Christa T." Auch auf dem Gebiet der Schriftstellerei, glaubte ich mit den Büchern der Wolf zu erkennen, hatte die DDR die Nase vorn. Ich glaubte viel in jener Zeit, aber in den Büchern, in der Dichterin, hatte ich mich nicht geirrt. Ihr Engagement gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns konnte mich nicht erreichen, Gläubigkeit kann manchmal ziemlich blöde machen.

In den "Begegnungen Third Street" erinnert Christa Wolf sich an einen der Alten, die für ihre Überzeugung während der Nazi-Zeit Zuchthaus, KZ und den Tod riskiert hatten. Und noch heute leidet sie daran, wie auch die der DDR den falschen Weg gebahnt hatten. Gab es den richtigen Weg in der zweigeteilten Welt? Ist die Welt nicht immer noch geteilt? - Nach der Schwere und Strenge, Eigenschaften die auch im »Gesprächskreis« manchmal eine protestantisch-karge Atmosphäre verbreiten konnten, gibt das Buch, besonders in der Erzählung "Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet für sie ein Essen vor", Ausblicke auf eine gelöste, heitere Christa Wolf, die eine sehr liebevolle Karikatur ihres Mannes zeichnet und Appetit auf dessen Küche macht.

Die DDR war kaum Teil der anderen deutschen Republik geworden, da fiel der Kurswert von Christa Wolf in den Feuilletons. In Wahrheit sei sie keine Dissidentin gewesen, auch nicht wirklich für die deutsche Einheit und außerdem sei ihre Literatur nicht wirklich wertvoll. Letztlich sei sie, wie andere Intellektuelle der DDR, eine Stützte des Systems gewesen. Die Gewinner der Einheit mussten nicht nur die Kommandohöhen der Politik und der Wirtschaft besetzen, auch die Gipfel der Kultur und der Moral sollten ihnen gehören.

Nur einmal im Buch kommt der "Gesprächskreis" vor, in "Donnerstag, 27. September 2001". Der Krieg gegen Afghanistan, als Krieg gegen den Terror maskiert, kann an diesem Tag jeden Moment beginnen. Die Medien-Moralmaschine kommt auf Touren, im "Tagesspiegel" werden unter der Überschrift "Das feige Denken" jene Intellektuellen gebrandmarkt, die sich in den Zeiten des"Kampfes gegen den Terror" in "antiamerikanische Ressentiments ...flüchten". So viel kluge Fluchthilfe war selten. In der Erinnerung von Christa Wolf an diese Diskussion bleibt ihr ein Gefühl "zwischen falschen Alternativen mit dem Rücken an der Wand zu stehen", zwischen denen, die glauben, die Terroristen verstünden nur die Sprache der Gewalt und den anderen, die gegen die Spirale der Gewalt argumentieren. Es ist die Erzählung, die unter der Voraussetzung steht, dass "ich habe lernen müssen, dass Wahrheit nicht glücklich macht, weil sie alleine nichts bewirkt."

Und doch ist die Wahrheit, die Erkenntnis, Bedingung für Glück, Unglück, für richtiges Leben. Um der Wahrheit nahe zu kommen, braucht man diesen anderen Blick, über den Christa Wolf verfügt. Einmal schreibt sie im Buch, sie sänge beim Autofahren, auch "Spaniens Himmel breitet seine Sterne". Das habe ich lange nicht mehr gesungen, das Lied der Leute, die versucht haben die spanische Republik vor Franco zu retten und sich vor Hitler. Aber wir sollten es immer wieder versuchen, das Retten. "Mit anderem Blick" ist ein kluger, warmherziger Beitrag dazu.
(Suhrkamp Verlag)