Es ist angenehm zu lesende Literatur, die Joachim Fest mit seinem letzten Buch "Ich nicht" hinterlassen hat. Mit einer klar gefügten Sprache erzeugt er einen reinen, hohen Ton, der den Lesern lange noch ein Gefühl von Anstand, Moral und Bürgerstolz vermitteln könnte. Vor allem dieser Stolz auf Bürgertugenden war es, der den Kulturchef des Spiegels, die komplette FAZ und auch das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung zu Elogen jener Art hingerissen hatte, die eher dem "Ich auch" galten als dem "Ich nicht": Ich bin auch ein richtiger Bürger, sagten uns die Rezensionen, es kommt wieder, das Bürgertum, wir sind dabei und Fest ist sein Prophet.

Das Festsche "Ich nicht", Buchtitel und Parole zugleich, gilt dem Vater des Autors. Jenem Johannes Fest, der sich den Nazis nicht beugte, die ihn aus dem Schuldienst warfen und mit Berufsverbot überzogen, der nicht mitmachte, obwohl es Millionen andere Deutsche taten, der mit der einfachen und doch so schwierigen Verweigerung den Vielen, die noch heute das "Wir-konnten-doch-nicht-anders" erzählen, beweist: Es wäre anders gegangen. Fest setzt mit seinen Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend diesem Vater ein zartes, liebevolles Denkmal.

Schon im April 1933 wird der Rektor einer Berliner Schule beurlaubt, später aus dem Dienst entlassen, man wirft ihm staatsfeindliche Umtriebe vor. Der gläubige Katholik war bis zur Machterschleichung der Nazis Mitglied des "Reichsbanners" gewesen, jener sozialdemokratisch inspirierten Formation, die der Verteidigung der Weimarer Republik dienen sollte, und deren legalistische Haltung angesichts des drohenden Hitler-Putsches der Vater bitter kommentierte: "So verblendete, feige Gegner wie uns habe ich der Republik zeit ihres Bestehens gewünscht. Denn dann hätte sie überdauert."

Die Familie Fest rückt, der Bedrohung durch die Nazis entgegnend, eng zusammen: Am Tisch der Fests wird immer noch ein offenes Wort gesprochen, die Nazis eine "Package" genannt, die Nachrichten der BBC, des englischen "Feindsenders", gehört und kommentiert. Der Kreis der Freunde wird kleiner, aber die eigene Not hindert die Fests nicht, anderen zu helfen. Ohne viel davon herzumachen wird der Leser mit den jüdischen Freunden der Familie vertraut, denen man hilft außer Landes zu kommen oder, wenn sie wieder besseren Rates geblieben sind, ihre Isolation zu mildern.

Eine stille Würde geht von der Familie aus, erst recht als mit der Olympiade 1936 eine internationale Anerkennung des Regimes seine Gegner im Land weiter ins Abseits drängt: Man grüßt sie nicht mehr, ehemalige Bekannte wechseln die Straßenseite, wenn sie den Fests begegnen, ein leerer Raum bildet sich um die kleine Gemeinschaft. Als dann die Mutter den schwerer werdenden Problemen ausweichen will und empfiehlt, der Vater möge doch in die Partei eintreten, die da oben zu täuschen sei legitim, "Die Unwahrheit sei immer das Mittel der kleinen Leute gewesen", da fällt der Satz, der zum Credo des Buches, zum Glaubensbekenntnis der Rezensionen und zum Ideologieapparat des Autors gerät: "Wir sind keine kleinen Leute".

Wer sich erinnert, wie in der Debatte um Günter Grass der Autor Fest in Stellung gebracht wurde - der eben nicht in der Waffen SS gewesen sei sondern nur einfacher Soldat, der nicht aus kleinen Verhältnissen stamme, und dessen Vater, anders als der von Grass, sich der Nazi-Partei verweigert habe - der weiss, worum es in dieser Diskussion geht: Es geht darum, wer die Deutungshoheit über die jüngere deutsche Geschichte innehat, wer für die neue Republik sprechen darf und wer nicht. Deshalb reicht die Kampagne "Grass gegen Fest", Bürgertum versus "kleine Leute", weit über die zwei Erinnerungsbände, weit über Literatur hinaus.

Schon im ersten Kapitel seiner Erinnerungen lässt der Autor seinem Mangel an Kenntnissen freien Lauf, wenn er seine Familie und sich zum "Bildungsbürgertum" rechnet, das die Achtundsechziger zu den Hauptschuldigen am Aufstieg Hitlers gemacht hätten. Diese Bildungsbürger hätten nur ein Prozent der Bevölkerung ausgemacht, während doch die Nazis von mehr als vierzig Prozent gewählt worden seien. Aber genau diese Bildungsbürger, solche wie sein Vater, die hätten eben, so versucht der komplette Memoirenband zu beweisen, sich der Hitlerei verweigert, seien eben keine Mitläufer gewesen, keine kleinen Leute. Natürlich unterstellt Fest mit dieser Überlegung implizit, dass es die kleinen Leute gewesen sein müssen, die den Hitler gewählt hätten, das Bürgertum, erst recht das gebildete, könne ihn wohl kaum gewählt haben.

Was mag ein Bildungsbürger sein? Ein Lehrer dem fünfhundert Bücher gehören? Ein Rechtsanwalt mit mit vier Metern Buchregal oder ein Professor mit einer Bibliothek, die mehr als dreitausend Bände zählt? Wir wissen es nicht, was wir wissen ist, dass nicht wenige gebildete Rechtsanwälte die Büros ihrer jüdischen Kollegen übernommen haben, dass den nichtjüdischen Ärzten die Patienten der jüdischen Kollegen durchaus recht waren, und dass an deutschen Universitäten kaum ein Professor bekannt geworden ist, der den aus politischen oder rassischen Gründen entlassenen Kollegen zur Seite gesprungen wäre oder gar deren frei gewordene Stellen nicht gerne eingenommen hätte. Und wir wissen auch, dass die großen Leute an der Arisierung kräftig verdient haben.

Die offizielle Erinnerungskultur des vereinten Deutschland erschöpft sich im Gedenken an die ermordeten Juden und an eine kleine, handverlesene Gruppe von Widerständlern, die unter zwei Namen bekannt ist: Die "Männer des 20. Juli" und die "Weisse Rose", beides waren Gruppen, die eher dem Adel oder dem Bürgertum entstammten, also kaum den "kleinen Leuten" zuzuordnen waren. So fügt sich das Fest-Buch glatt in das tradierte Geschichtsbild ein. Dass der erste und größte Widerstand gegen Hitler in Spanien stattfand, dass dort, in den internationalen Brigaden, die deutschen Schlosser und Tischler, die Maurer und Bergleute, zu Tausenden der spanischen Republik im Kampf gegen einen faschistischen Putsch zu Hilfe eilten, während auf der anderen Seite die Bürgersöhne in den Flugzeugen der reichsdeutschen Legion Condor saßen und Guernica bombardierten, davon wollten und wollen die Fest und die Feuilletonchefs nichts wissen. Es könnten, Gott behüte, die kleinen Leute einen Platz in der Geschichte bekommen, das ginge zu weit.

Das ist der Jammer mit dem Erinnerungsband von Joachim Fest: Trotz pastellener Sprachbilder, luzider Beschreibungen und liebevoller Portraits ist und bleibt das Buch ein Propagandatraktat, das nicht nur genüßlich gelesen, sondern auch gründlich analysiert werden will. Der Vater Fest räsoniert noch lange nach dem Ersten Weltkrieg über "das Unwesen der Soldatenräte" und als die Hitlertruppen in Frankreich siegen, gönnte er den Franzosen "die Niederlage von Herzen". So war es, das deutsche Bürgertum, selbst in den kleinen Teilen, die den Hitler nicht mochten: Unfähig die heroische Rolle der Soldatenräte, der kleinen Leute als Friedensbringer, als einzige deutsche Kraft, die den ersten Weltkrieg beendete, zu begreifen und zu dämlich, das gängige Vorurteil gegen den Erbfeind Frankreich als Teil der Nazikriegsideologie zu erkennen.

Und der Sohn, der nun wirklich nicht die tapfere Haltung des Vaters für sich reklamieren darf, fährt munter fort: Da wird ein Kriegskamerad zustimmend zitiert, der französische Zivilisten, die deutsche Gefangene bespucken, zynisch als Beginn der "heldenhaften Résistance" bezeichnet. Fest selbst charakterisiert die "Verbindung zwischen Juden und Deutschen" retrospektiv als tief und verwandtschaftlich, als ob diese Juden, die dann von ihren Nachbarn ermordet wurden, keine Deutsche gewesen seien. So bleibt der Bürger Fest noch im Mitgefühl ein klein wenig rassistisch, so kann er dem französischen Nachbarn gegenüber, das Nachtreten nicht lassen.

Vollends ins Peinliche fällt das Buch in seinem Schlusskapitel. Da wird dann noch mal dem Grass und den "ungezählten Selbstbezichtigern" die Ehre abgeschnitten, die denen als Enthüller jüngerer deutscher Vergangenheit eigentlich zukäme. Aber die, so Fest, würden ja die "Schuld" immer nur den anderen anhängen. Auch die nach Fest "politisch wirre und moralisch großtuerische Jugend" der 68er Jahre wird denunziert, so, als ob es ohne diese Jugend, ohne diesen Grass eine offen Diskussion deutscher Geschichte gegeben hätte, als hätte man all dass, was die "Selbstbezichtiger" bekannten, auf den Seiten der "Frankfurter Allgemeinen", deren Herausgeber Fest lange Jahre war, lesen können. Die hatte in jener Zeit genug damit zu tun, die Restauration der Westrepublik inklusive deren von den Nazis übernommenes Personal ausgiebig zu feiern.

Es war in den Zeitungen zu lesen, wenn auch nicht mit dem gleichen Platzbedarf, den vorher die Lobgesänge auf das Fest-Buch einnahmen, dass der Autor in seinen Erinnerungen dem Philosophen Habermas eine Nazivergangenheit andichtete, die frei erfunden und ihm als Lüge bekannt war. So bestätigt der bürgerliche Historiker Fest mit seinem eigenen Buch, den Verdacht, dass bürgerliche Geschichtsschreibung viel mit Ideologie und wenig mit der Wahrheit zu tun hat. Viel schlimmer aber erscheint, dass Fest, als überführter Lügner, das Andenken seines Vaters beschädigt hat, eines Mannes, der die Borniertheit seiner Schicht überwinden konnte als es Not tat.