Wer Menschen in Südafrika, in Bolivien oder den Philippinen zum Beispiel fragen würde, was sie terrorisiert, der wird nichts von Al Quaida hören, dem westlichen Schlagzeilenmonster, dem werden die Worte Armut begegnen oder Hunger oder Krankheit. Und wenn dann weiter gefragt wird nach dem Verursacher des Elends, und man trifft auf Menschen mit Klugheit und Würde, dann kann man die Adressen hören: Weltbank und Internationaler Währungsfonds. Und während die TV-Nachrichten dem Elend gerne zu Weihnachten oder anderen sentimentalen Gelegenheiten ein Sendeplätzchen geben, während die Weltbank und der Internationale Währungsfonds in den Medien als respektable Institutionen gelten, hat sich der Regisseur Florian Opitz mit seinem Film "Der Grosse Ausverkauf" einige der Menschen zu Helden erkoren, die keinen Respekt mehr kennen, die ihr schlechtes Leben zunehmend mehr fürchten als den Tod.

Seit fast zwanzig Jahren lebt die Welt, genauer: jener Teil in Politik und Medien, der die Meinung der Welt bestimmt, im schweren Privatisierungswahn. Kein Argument ist zu dumm, keine Lüge zu groß, um das was gestern staatlich war anderentags zu privatisieren. Worte wie modern oder effizient münden schließlich in einer scheinbar unumstößlichen, lauthals verkündeten Überschrift: Die Privaten können es besser als der Staat. Diese Propagandaformel wird gerne noch um das Wort Wettbewerb ergänzt, ein Wettbewerb zwischen den privatisierten Staatsbetrieben- oder Institutionen, der für den Konsumenten preiswertere und bessere Dienstleistungen oder Waren bedeuten soll. Opitz Dokumentarfilm beweist am Beispiel der britischen Eisenbahn wie völlig unsinnig diese These ist: Die entstaatlichten Eisenbahnen, in etwa 20 Betriebe aufgeteilt, sind teurer, unpünktlicher und unfallträchtiger als je zuvor. Mit dem britischen Lokführer Simon Weller besichtigen wir im Film die Bahn nach ihrer Privatisierung: Die scheinbar privatisierte Bahn wird mit doppelt so viel Steuergeldern subventioniert wie zuvor und sie ist nur noch halb so gut. Dafür gibt es jetzt mehr Menschen, die gar nicht mehr Bahn fahren können: Rationalisierung und Entlassungen haben die Zahl jener Armen erhöht, für die eine Reise nicht mehr erschwinglich ist.

Es ist eine der Stärken des Films von Florian Opitz, dass er das globale Problem der Entstaatlichung auf die lokale Ebene hebt, dort, wo die Folgen schmerzlich sichtbar sind und das ökonomistische Heilsgeschwätz der brutalen Wirklichkeit Platz macht. In Cochabamba zum Beispiel, in der drittgrößten Stadt Boliviens, wurde auf massiven Druck der Weltbank die Wasserversorgung privatisiert, ein parallel erlassenes Gesetz verbot der Bevölkerung, Wasser aus Flüssen und Seen zu entnehmen. Dass immer mehr Menschen sich immer weniger Wasser leisten konnten, war für alle, außer den bezahlten Apologeten der Privatisierung, selbstverständlich. Ausgerechnet der US-Konzern Bechtel, dem bei Übernahme der staatlichen Wasserversorgung eine jährliche Rendite von satten sechzehn Prozent garantiert wurde, war der Begünstigte der Privatisierung. Der Bechtel-Konzern gehört, neben Haliburton, zu den großen Gewinnern des Irak-Krieges. Dort hat er weite Teile der Armee privatisiert und kann so überzeugend darlegen, wie effizient die Entstaatlichung funktioniert: Außen-und Militärpolitik der USA werden auf den Konzernetagen vorfabriziert, dann darf Bush sie im Fernsehen verlesen.

Die Bürger von Cochabamba, so schildert der Film anschaulich, kämpften im "Wasserkrieg" gegen ihre Regierung, gegen Bechtel und die während des über Cochabamba verhängten Kriegsrechtes versammelten Polizei- und Militärkräfte. Sie wollten doch tatsächlich nicht einsehen, dass Wasser Privateigentum sein sollte: "Sie haben alle Fabriken, die Telefongesellschaften, unsere Bahn, unsere Flughäfen und unsere Bodenschätze privatisiert. Wasser ist doch Leben. Man kann doch das Leben nicht privatisieren", sagt die sechzigjährige Rosa de Turpo, eine fröhliche, dralle Mutter von fünf Kindern, in die Kamera von Opitz. Sie ist eine von denen, die der Privatisierung die Stirn boten. Die Wasserwerke wurde in das Eigentum der Gemeinde zurück erkämpft. Die Wasserkriege in Deutschland stehen noch aus. Zwar musste in der Bundesrepublik bisher niemand bis zu einem Drittel seines Einkommens für Wasser aufwenden, wie das in Cochabamba üblich war, aber alle inzwischen privaten deutschen Wasserwerke haben als erstes für Preiserhöhungen gesorgt. Von mehr Wettbewerb, wie die EU oder die deutsche Regierung haltlos daher schwätzen, keine Spur.

Im südafrikanischen Township Soweto, erzählt der Film, sind es die "Guerilla-Elektriker", die den Kampf gegen den privaten Stromanbieter ESKOM aufgenommen haben. ESKOM kappt die Stromleitungen jener Familien, die ihre drastisch gestiegenen Stromrechnung nicht bezahlen können und die "Guerilla Elektriker" flicken sie wieder zusammen. Einer von ihnen ist Bongani, ein eher schmächtiger, eher junger Mann, der den Zuschauern unpretentiös von seinen Gefängnisaufenthalten erzählt, denn manchmal werden die Guerillas erwischt, und freimütig überlegt, ob er vom Tod bedroht sein könnte. Nur vier Monate nach dem Ende der Dreharbeiten von "Der grosse Ausverkauf" stirbt Bongani. Die Hintergründe seines Todes konnten nicht geklärt werden. Die Zahl der Deutschen, die ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen kann, ist bei weitem nicht so gross wie die in Soweto. Aber sie wächst. Und auch bei den privatisierten Stromversorgern in Europa bleib das Versprechen auf Wettbewerb, günstigere Preise und höhere Effizienz ein schlechter Witz. Wer sich an die im letzten Winter einstürzenden Strommasten des EON-Konzerns erinnert, weiß, wohin die Gewinne nicht gehen: In den Erhalt und die Pflege des Stromnetzes. Wer den selben Konzern beim Kauf anderer Konzerne beobachtet hat, der kann unschwer erkennen, dass die Strompreiserhöhungen der letzten Jahre zu nichts anderem dienen als zu großkotzigem, präpotentem Getue mit möglichst profitablem Ausgang. Aber vielleicht ist der Strom in den Privatisierungsjahren ja besser geworden, leckerer oder stärker.

Die so genannte Gesundheitsreform stärkt den privaten Sektor der ärztlichen Versorgung. Wo Bildung privatisiert ist, kommt sie, auf Kosten der Unterschicht, den Reicheleutekindern zugute. Der Verkauf städtischer Wohnungsbaugesellschaften treibt die Mieten, die privatisierte Telekom gilt als Chaos-Betrieb, und wenn die Bahn an die Börse geht, werden wir unser blaues Wunder erleben. Die öffentlichen Haushalte und die Normalbevölkerung sind fraglos ärmer geworden. Aber während der öffentliche Glaube vorherrscht, das dort fehlende Geld sei einfach verschwunden, habe sich in der eisigen Höhenluft kapitalistischer Effizienz aufgelöst, sagt die nüchterne Statistik etwas anderes: Das fehlende Geld findet sich bei einer dünnen Schicht von Superreichen wieder, einer Schicht, die in den letzten zwanzig Jahren immer reicher geworden ist. Das gilt auch für den weniger beobachteten Sektor der Kultur. Einerseits können sich die Städte ihre Galerien und Museen kaum mehr leisten, andererseits stellen private Stifter mit großer Geste ihre Sammlungen zur Verfügung. Ein wunderbares Beispiel der Kultur-Privatisierung lieferte das Land Berlin: Der Erb-Enkel des aus Arisierungen und Zwangsarbeit reich gewordenen Friedrich Flick stellt seine Sammlung in Gebäuden aus, die das Land Berlin finanziert. Natürlich darf er während der Dauer der Ausstellung aus der Sammlung verkaufen und die Gewinne daraus fließen, unerreichbar für den Fiskus, auf eine dieser englischen Steuerspar-Inseln im Kanal. Das alles wurde bei der Eröffnung vom Gasprom-Kanzler Schröder als Kulturförderung verkauft, während es doch eigentlich nichts anderes ist, als die Finanzierung einer privaten Verkaufsgalerie aus Steuermitteln.

Florian Opitz hat in vierjähriger Arbeit einen ausgezeichneten Film vorgelegt, der intellektuell und emotional ein Thema ausbreitet, das in den Medien kaum oder völlig verkehrt, in des Wortes doppelter Bedeutung, geschildert wird. Dem Filmemacher, dessen Arbeit ab dem 17. Mai in die Kinos kommt, kann man nur Erfolg wünschen. Und anmerken darf man, dass seine Produktion bei "WDR" und "arte" eine wesentliche Unterstützung erfahren hat. Manchmal merkt man eben doch, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch nicht privatisiert ist.